60 Kilometer hinter der Normalität: Im wahrscheinlich nachhaltigsten Turm der Welt
Ohne Cola, Fritten und Fritteusen: Alles fließt, isst und trinkt anders bei „De Reusch“ in Schimmert
Es plätschert und hallt. Die zwei Damen und ein Herr sitzen in der zweiten Reihe im Halbdunkel. Jetzt fällt ein erster Tropfen. Dann ein zweiter, der sich mit dem anderen verwirbelt, zusammenfließt und tänzerisch steil nach unten fließt. Die Drei wirken nicht nervös, obwohl sie mitten in einem riesigen, runden Tank warten, indem man früher wohl leicht ertrunken wäre, hätte man sich so leichtsinnig ins Bassin hineingewagt. Sie haben es sich bequem gemacht – auf den schwarzen Sitzschalen, die auf den Beton geschraubt sind. Der ist absolut trocken und feingeschliffen. Reihe um Reihe, insgesamt sind es sechs mit jeweils etwa 10 Plätzen, die auf der Tribüne nach oben gehen. An der Decke, so vielleicht 10 Meter hoch, kann man noch große Wasserflecken vermuten. Es müssten uralte sein. Die Luft ist klar (vielleicht gibt es auch eine Klimaanlage) – und wenn es losgeht, ist sie vorne auch im dunklen Neon-Blau durchflutet.
Die Sitzschalen haben etwas von Cockpits, sind aber nur Sessel der anderen Art. Ganz oben rauscht gerade ein Fahrtstuhl in die Tiefe, die man nur erahnen kann. Davor scheinen zwei imposante Betonsäulen die Kuppel und alles andere auch zu halten. Es blinkt kurz auf, dann ist es wieder stockfinster. Die Tropfen, die jetzt lauter und polyphoner werden, sind nur grafisch gespielt, digital erschaffen – quellen und kullern filmisch an einem Turm in einer Nacht hinunter – projiziert und illuminiert an einer gigantischen Leinwand, die als überdimensionierter Bildschirm im Triptychon-Format gerundet ist. Ein gewaltiges Panorama türmt sich auf – in einer seltenen Art und Form von Kinosaal – in der 6. Etage, der eher profan wie bescheiden „Smaaktheater“ (Geschmackstheater) heißt. Eine sonore Männerstimme erzählt dazu etwas von der Kraft und vom Geist, also vom Spirit des Urelements Wasser – und darin dann auch die Geschichte dieses Wasserturms, der nicht aus der Ewigkeit kommt, sondern aus 1926/1927, als er gebaut wurde. Im Stil der „Amsterdamer Schule“, expressionistisch. Bis in schwindelerregende Höhen hochgezogen – mit lokal-charakteristischen Backsteinen. Fast: pyramidisch – nur in Zylinderform. Es ist eine bauliche Ikone, die vor knapp 100 Jahren schon futuristisch war. Und jetzt wieder futuristisch ist und wird. Nur anders, ganz anders.
Wanderer, hier findest Du keine Cola, nicht einmal eine Fritte.
Ein wahrer Riese, auch so im Volksmund genannt, verbunden mit einer Ortsbestimmung: de/von Reus. Wasser, sagt die Stimme noch, bewegt sich immer. Leichter vielleicht – als die drei Besucher, die vorher alle Stufen im Wendelgang sportlich heraufgeklommen sind und jetzt aber ziemlich ent- wie gespannt dasitzen. Fast auf dem Gipfel angekommen. Sie hätten auch den Lift nehmen können. Auch mit einem richtig gutem Gewissen, weil er von Solarstrom angetrieben wird. Nun schauen sie mit normalem oder 4D-Blick/-Geschmack (…manchmal werden zu 2D oder 3D auch Essen wie Getränke serviert…) in die Genesis wie Historie zurück – und in die neue Gegenwart und Zukunft eines Turmes hinaus, der sich zwar nicht rührt, aber in eine andere Dimension bewegt wurde. Man könnte dazu noch eine markenbekannte, auch kinosaal-typische Cola oder Fanta schlürfen. Die gibt es hier aber nicht zu sehen und zu kaufen, weil ihre Art (und ihre Zutaten und ihre Produktion) außerhalb liegen, also irgendwie als negativ unter- oder außerirdisch bewertet werden. Außerhalb heißt: …sie sind jenseits, also hinter der Linie und im Radius von 60 Kilometern – von diesem Punkt und Ort, eben von diesem Giganten aus – abgefüllt worden. Das geht gar nicht. 60.000 Meter – so weit kann man von hier aus bei klarem Wetter maximal schauen. Nicht vom Kino und Auditorium aus, aber etwa am besten von der Panoramaterrasse im 7.Stock, also gleich darüber.
Praktisch und wertekonform.
Man muss aber nicht verdursten: Es gibt ja „Frisch“, das alternative, selbstproduzierte Frucht-Erfrischungsgetränk etwa in den Geschmacksnoten „Druiven“, „Morellen“ oder „Blauwe Bes“, das mit Natürlichkeit und „met louder Limburgse Ingredienten“ beworben und gleich eine Etage tiefer auch ganz praktisch wie wertekonform produziert wird, also faktisch am optimalen 0- bzw. Zentralpunkt des Gesamtkonzeptes wie -programms vom hauseigenen Herstellungshahn direkt in die Flaschen kommt.
Der Besuch in der zweiten Reihe trinkt erstmal nichts. Er wirkt kleidungstechnisch auch leicht so, als käme er von einem Spaziergang oder einer Wanderung – und würde diese(n) vielleicht auch nach der informativen, etwa auch kulinarischen Stippvisite wieder fortsetzen. Der Eintritt zur Besichtigungstour (inklusive Filmvorführung) kostet im Normalfall 3 Euro, es gibt aber auch Sondertarife oder eine günstige Jahreskarte.
André Köppen, der neue Betreiber und Herr des Turms „De Reusch“ im niederländisch-limburgischen Örtchen Schimmert (rund 4 Kilometer von Valkenburg entfernt), erklärt später, dass in der Region überdurchschnittlich viele Rentner/Senioren leben würden. Sie stellen eine wichtige Zielgruppe dar. In der Woche kommen sie zum gastronomischen Kurz- oder mittellangen Stopp, an Wochenenden oder an Feiertagen mit ihren Familien. Der Turm liegt an bekannten Rad- und Wanderouten, im regionalen Freizeit- und Touren-Ranking aber eher etwas in der zweiten Reihe bedeutsam, aber immerhin. Der Turm ist also auch eine touristische Haltestelle – als neuer Hotspot, eröffnet im Sommer 2021. Die Kinogäste von oben sind die drei aktuellsten von insgesamt rund 52.000 Besuchern, die bisher in einem Jahr hierher kamen – und hier auch anders saßen, aßen wie tranken – sowie abhängig von der äußeren Klimalage näher oder weiter hinausschauen konnten. Köppen, gerade in der Funktion des Kinotechnikers, checkt nochmal das Regiepult. Dann reisen auch wir weiter.
Gib mir mal `ne Flasche Bier, aber nur nachhaltig.
Jetzt steht er in der 5. Etage in der Minibrauerei – und spiegelt sich in den blitze-blanken Kupferkesseln, in denen mittlerweile pro Tag rund 500 Liter Bier der Eigenmarke gebraut werden. Für den Eigenbedarf, aber mittlerweile auch für regionale Kunden im Gastro- und Einzelhandelbereich abgefüllt. Der Raum, wieder von unverputztem Beton geprägt, ist keine schlichte Produktion, sondern auch eine edel-glänzende Präsentationsarena für Besucher, die auf die Info-Tour durch die „De Reusch“-Welt gehen und gucken.
Auf einer Fensterbank stehen noch versiegelte Flaschen, ordentlich aufgereiht. Darauf sind die Namensschilder der Crowdfunding-Geldgeber markiert, die es auch noch brauchte, um das gesamte Projekt finanziell wie auch mit ideeller Unterstützung auf die Spur zu bringen. 2016 kaufte der regionale Solartechnik- und Ökounternehmer Nico Eurings mit seinem Bruder Roger den Turm. Die weitere Planungszeit ging über 4 Jahre, die Bauphase dauerte rund eineinhalb Jahre.
Ein Leuchtturm, der winkte.
André Köppen und seine Frau Anne-Marie Köppen-Peerboom sind Gastro-Spezialisten, haben etwa elf Jahre lang das „Gulpener Brauhaus“ an der bekannten Brauerei gleichen Namens geführt, auch schon mit einem Erlebniskonzept verbunden. Später waren sie u.a. an der Entwicklung der Thermenwelt in Born beteiligt. Danach sah ihre Planung vor, ein Gastro-Konzept zu verwirklichen, dass Ökonomie und Ökologie beispiel- wie pionierhaft verbinden sollte. Ein Leuchtturm-Projekt für eine andere, bessere Zukunft also, nicht unbedingt im hippen Maastricht, lieber etwas außerhalb gelegen. Mit Neuem am neuen Ort, vielleicht auch eher an einer unbekannten Örtlichkeit umgesetzt, die auf Revitalisierung wartet(e). Da leuchtete und winkte der Turm von Schimmert ihnen passend zu. Insgesamt wurden 3 Mio. Euro investiert. Unterstützung kam auch von der regionalen Wirtschaftsförderungsgesellschaft IBA Parkstad, für die „De Reusch“ ein Vorzeigeprojekt ist. Die Köppens sind Mieter des Objektes.
Das Geld floss nicht in Fritteusen.
Das Geld floss nicht in Fritteusen. Sie sind hier ein absolutes No-Go, also nicht vorzufinden. Ganz Radikal: Es gibt keine Pommes Frites auf der Speisekarte – und dies im gelobten Land der Bamis und Friet Speciaals. Adieu…Patat Saté! Abseits von Cola oder Nicht-Cola, von Frittenfett oder keinem Frittenfett im kategorischen Imperativ – ist die Programmatik so einfach wie auch komplex. Es sollen, werden und dürfen nur Rohstoffe und Produkte gekauft, produziert, gekocht wie angeboten werden, die innerhalb der Sichtweite von 60 Kilometern angebaut wie auch hergestellt werden. Das ist das Credo, der Kompass – und die Bannlinie gleichermaßen.
Rund 35 Lebensmittellieferanten aus der EUREGIO, die den besonderen Ansprüchen der Regionalität, der Bio-Standards und Nachhaltigkeitsregeln entsprechen, gewährleisten die Realisierung dieses Anspruchs. Dazu kommen nochmal 31 Weinlieferanten. Einen Überblick zum Gesamtsortiment bieten nicht nur der Webshop, die Verkaufsstände im Eingangsbereich, sondern auch der Showroom in der 3. Etage, der als „Streekproducten Plein“ zur näheren Live-Erkundung und Information einlädt. Hier präsentieren sich spannende, lokal-regionale Anbieter, die ganz auf alternativ setzen. Zudem gibt es noch eine Verkostungsebene (etwa für Gruppen) – im sogenannten „Proeflokaal“ (2. Etage).
Die Menüs sind fixiert.
80 Plätze gibt es im Restaurant (1. Etage). Ein hoher, zweistöckiger wie großzügiger Raum, durchzogen von einer Stahltreppe. Die meisten Tische stehen vor Fenstern, was also auch einen besonderen Ausblick verspricht. A-la-Carte-Bestellungen gibt es allerdings nicht. Die Menüs (in verschiedenen Preiskategorien) sind fixiert, also geprägt und abhängig von der jeweiligen Verfügbarkeit an regionalen Produkten. Der Slogan: „Eten en drinken van zover je kunt kijken“ (Essen und trinken…so weit Du blicken kannst) wird also strikt eingehalten. „Zero Waste“ versteht sich von selbst, zudem gibt es auf dem Parkplatz Ladestationen für E-Bikes und E-Autos. Preise und Auszeichnungen für das Turmprojekt gab es auch schon in Reihe, die stolz auf der Theke im Eingangsbereich geparkt sind. „De Reusch“ ist auch das erste niederländische Rijksmonument, das klimaneutral ist. Zudem wird die Außenfassade manchmal auch als Projektionsfläche für politische Statements genutzt: Etwa zum „Tag der Kinderrechte“ leuchtete der Turm in UNESCO-Blau.
Nachhaltigkeit in der Totalen ist gar nicht so einfach zu erfassen, aber der Blick ist natürlich unberührt und schön.
„Anders konsumieren“, der Leitspruch von Köppen & Co., gilt auch für die Rooftop-Bar, ganz nah am Himmel gesetzt, also in der 7. Etage. Der stillste, relaxte und irgendwie auch freieste, beeindruckendste Raum von allen Räumen. Natürlich mit Rundumblick – schon von innen. Und außen: Mit der Möglichkeit zum Rundgang. Hier schweifen die Blicke und Gedanken. Ob man will oder nicht. Zum Kaffee oder Tee, deren Grundstoffe zwar von weit jenseits der 60-Km-Grenze kommen, aber als Ausnahme toleriert werden. Immerhin kommt der Kaffee von der bekannten Traditionsrösterei „Blanche Dael“, einem Familienunternehmen aus Maastricht.
Mal gucken am Aussichtspunkt: Auch schön im strömenden Regen zu erleben, der gerade wild über die Ausguckscheiben rinnt. Aus Wasser, diesmal analogem. Wer nach Orientierung sucht, kann jetzt raten. Oder die topografische Haus-App nutzen: Halte Dein Mobilphone in eine Richtung – und Dir wird angezeigt, wo welcher Ort liegt und wie weit er entfernt ist. Grevenbroich z.B.: exakt 58,18 Km.
Dahinten ist irgendwo ein Meer – und die Welt.
Genau, genauer: Gedanken schweifen…lassen. Weit weg und wieder zurück – kann auch zu dem Punkt führen, wo man kurz grübelt, also versuchsweise nachhaltig nachdenkt: Wenn ich jetzt ein Bild vom „Frisch“-Getränk mit meinem IPhone mache, das hier nirgendwo gewachsen ist, ist es dann noch…wirklich…korrekt und konform? Nachhaltigkeit in der Totalen ist gar nicht so einfach – zu erfassen, aber der Blick ist natürlich unberührt und schön. Die Wolken sind es vielleicht auch. Abseits wie inner- oder außerhalb von Gedanken und Ideen. Alles fließt – wohin? Dahinten ist irgendwo ein Meer – und die Welt.