19.05.2022

Der ganz neue „Nieuwe Nor“ (Neue Knast) in Heerlen

6 Mio. Euro für einen 5-Sterne-Pop-Tempel in der „Provinz“

Struktur, Strategie und Progressivität der „Pop-Podien“ in NL-Limburg

„Pop-Kultur first“: Als Forum der Nachwuchsförderung, als Kultur-Magnetismus und vor allem auch als zentraler Faktor der Stadt-, Region- und Wirtschaftsförderung

Willkommen im Knast: In der Garage könnte man auch leben – wie in einer Loftwohnung. Und darin auch gleich seine Limousine wippen lassen. Mit Groupies vielleicht, die es über die pinke VIP-Kordel ins prominente Heim geschafft haben. Für normale Besucher, die im Eingang gleich nebenan auch glauben könnten, sie wären in einem Hotel mit vier oder mehr Sternen gelandet, blinken die nagelneuen Schließfächer ebenfalls exklusiv durch den Vorraum. Die waren auch eher nicht billig. Sie sind auch technisch smart, rostfarben-poppig und ploppen nur per QR-Code auf. Mitten auf der Betonwand klebt ein Kaugummiautomat mit einem Affen. Er spuckt „Thunder Plugs“ aus, damit man seine Ohren gegen den Lärm schützt, also gegen mögliche Pfeiftöne, die auch von der Party und von der Musik kommen können. Die alten Kassen- bzw. Sicherheitsschleusen, sagt Ruben Schreibers (31), hätten sie jetzt zu Toiletten umfunktioniert. Im Saal nebenan hängt eine große, runde Glocke als Discokugel. Auf jeder Etage gibt es tolle Bars. Kleine, große und auch eine für VIPs, Stars, besondere Freunde – und vielleicht auch für alle. Teilweise mit einem atemberaubenden, verglasten Blick in den freien Himmel. Auch auf die Kirche von Pankratius, einem Eisheiligen. Der steht zwar nicht für Pop, aber für fast so klingende Reime im Bauernkalender. Mit 14 Jahren wurde Pankratz verhaftet, geköpft und den Hunden…Der Blick heute hinaus ist wirklich friedlicher als die Märtyrergeschichte, die dem Weg der Heere und auch der Kultur von Rom bis hierhin folgte – zur Stadt, die „Heereswall“ heißt. Ruben sagt, dass hier demnächst auch ein Punkfestival stattfindet. Das eine muss mit dem anderen nichts zu tun haben. Für das Chauffeur-Personal, das mit dem Lastenfahrrad, dem Bulli oder dem Truck dann hierher pilgern und anrollen dürften, gibt es in der Garage gleich auch eine Dusche – ebenfalls „de luxe“.

Warum das „Nor“ so heißt, wie es heißt, kann keiner mehr sagen. Ruben, der seit Herbst 2021 Kommunikationschef vom Pop-Podium „Nieuwe Nor“ ist, auch nicht. Seine Anfänge liegen im Jahr 1969. Als Kultur-Cafe von Studierenden gegründet, die in Heerlen einen freien, alternativen Szenetreffpunkt schaffen wollten. Es folgte eine Standort-Odyssee, die schließlich an der Pancratiusstraat 30 – mitten in der Stadt, also in einem Wohngebiet – positiv endete. Das war 2006 – als Neustart, auch als erstes „Pop-Podium“ in der Provinz Limburg.

Das „Nor“ entspricht dem Prototypen eines niederländischen Kultur- und Musik-zentrums, das vor allem die lokale, regionale Szene breit und professionell fördern soll – als Sammelpunkt, als Auftrittsplattforum, als Entwicklungs- und Lernlabor, nicht zuletzt auch als eine Maßnahme der Wirtschaftsförderung und als wichtiger Teil der Verbesserung der Aufenthalts- und Lebensqualität im engeren und weiteren Umfeld. Vielfalt und Offenheit sind Kernmerkmale dieser Magneten, die für alle Formen der „Pop-Kultur“ ein Forum bieten, das gerade auch im Credo, im Programmspektrum und in der Professionalität weit von einem simplen „Jugend-Club“ oder  Kulturraum als Nischen-Rückzugsort am Rande entfernt ist.  

Es sind keine kulturellen Notunterkünfte zur Teilzeit-Bespaßung der lokalen Jugend in der Provinz, sondern strukturierte, dynamische, auch finanziell gut bzw. sehr gut ausgestattete Zentren der Kulturpolitik, die nicht untertage, sondern in der Mitte (örtlich, inhaltlich, pragmatisch) der jeweiligen Kommunen stattfinden. Sie richten sich zudem an junge und alte Kreative, Macher, Interessierte und Besucher gleichermaßen – im In- und Output, in der Synergie. Zudem verbinden sie vor allem auch lokale Bedürfnisse der KünstlerInnen und des Publikums mit überregionalen bzw. nationalen, oftmals auch mit internationalen Trends, Projekten, Protagonisten und Events der Pop-Kultur. 

Meist werden diese Podien von den Stadt- und Wirtschaftsförderern auch dazu genutzt, rückständige, manchmal auch ganz tote Viertel neu zu leben. Bestes Beispiel dafür ist die „Muziekgieterij“ in Maastricht, die als erstes ins Entwicklungs-gebiet „Sphinxquartier“ gepflanzt wurde, noch bevor dort irgendetwas anderes gebaut bzw. umgebaut wurde.             

Pop-Podien reihen sich wie Perlen quer durch die niederländischen Provinz Limburg auf – vom „Grenswerk“ in Venlo, die „ECI Cultuurfabriek“ in Roermond, über das „Volt“ in Sittard und die „Muziekgieterij“ in Maastricht bis zum „Nor“ in der Heerlener Innenstadt. Gerade in den letzten zehn Jahren haben die jeweiligen Gemeinden in Zusammenarbeit mit der Provinz-Regierung die lokale Pop-Podien erheblich aufgewertet und auch zu zentralen Kultur- und Veranstaltungsbühnen weiter-entwickelt. Mit fortschriftlichen Ideen, übergreifenden, konzentrierten Aktionen und auch mit ziemlich hohen Subventionen. Allein die Innenstandsetzung und die Vergrößerung der „Muziekgieterij“ in den ehemaligen Produktionshallen im Maastrichter Sphinxquartier sollen rund 10 Mio. Euro gekostet haben.

Diese Poppodien sind in der Kulturpolitik keine Rand- oder Alibiprojekte mehr, sondern längst auch Haupt(tri)bü(h)nen des kulturellen und sozialen Lebens vor Ort, die neben lokalen Acts vor allem auch nationale wie internationale Stars mittel- bis ganz große Bretter zum Auftritt und Austausch ermöglichen. Diese Strategie mit ihren neuen Möglichkeiten hat schrittweise auch zu Veränderungen der Tourneerouten von angesagten Bands in der EUREGIO geführt: Der neue Tournee-Magnetismus geht jetzt meistens über deutsche Großstädte – wie etwa Düsseldorf oder Köln – direkt weiter nach NL-Limburg, Lüttich, Brüssel, Nordfrankreich, Paris, Antwerpen, Amster-dam, Rotterdam…(oder umgekehrt). Ruhetage während der Tourneen werden dann schon mal gerne zu Stops in der „Provinz“ genutzt, die aber jenseits der NRW-Grenze eben diesbezüglich keine (mehr) ist. In den letzten Wochen kamen etwa Curtis Harding (Neo-Soul-Größe aus Detroit) und Lady Blackbird (internationale Jazz-Newcomerin aus L.A.) an die Maas. Der Eintritt lag bei (sehr) günstigen 15 bzw. 21 Euro. 

Limburg ist in Sachen Pop-Kultur organisatorisch, strukturell und programmatisch umfassend aufgestellt. Zentrum des engen Netzwerkes ist die Stiftung „Pop in Limburg“ (PIL), bereits 1984 gegründet. Am Sitz in Geleen wirken inklusive Aufsichtsrat rund 20 Mitarbeitende nur mit dem einen Ziel, „das regionale Klima für pop-kulturelle Aktivitäten zu verbessern“. Dies geschieht als umfassendes Portal für alles, was Kreative (und etwa auch andere Interessierte) brauchen – etwa mit einem aktuellen Newsdienst für den Popsektor, mit dem „Popboek“, den „Gelben Seiten“ der Szene, mit Podcasts, Werbemöglichkeiten, Projektagendas, Angeboten für Proberäume, mit zentralen Social-Media-Sites und Karriere-/Business-Beratungen.

PIL unterstützt vielfältig, grundlegend auch mit einer kategorischen, finanziellen Hilfe für MusikerInnen, Bands und DJs bei Auftritten. Aber auch Podien, zu denen neben den Pop-Zentren und Festivals auch kleinere Kultur-Cafes und –Kneipen gehören können, werden gefördert. Im nahen Sittard gibt es zudem ein Pop-Institut und die „Pop-School Parkstad“. Die PIL-Statuten besagen auch, dass quasi jeder Auftritt gefördert wird, allerdings auch mit einem Maximalbeitrag gedeckelt ist. „Pop in Limburg“ ist nicht die einzige gemeinnützige Organisation in der Region, die sich konzentriert für Pop-Kultur einsetzt. Zum engen und äußerst aktiven Netzwerk, das flächendeckend verbindet, berät und veranstaltet, gehören u.a. die regionale Entwicklungsgesellschaft „IBA (Parkstad)“, deren Logo auch immer wieder von der Haupttribüne des „PinkPop“-Festivals leuchtet, die Stiftung „Prins Bernhard Cultuurfonds“, die diversen Gemeinden, die Provinz-Limburg sowie die nationale Stiftung „Fonds Podium Kunsten/Performing Arts Fund NL“.    

Das „Nor“ hat auch in den letzten Jahrzehnten – trotz der eher beschränkten Möglichkeiten – immer ein spannendes und abwechslungsreiches Bands- und Party-Programm angeboten. Zu den Räumlichkeiten gehörten bisher nur eine größere Kneipe und ein Saal für maximal 350 Besucher. Die Zeiten waren gut, aber jetzt geht es auf ihren Fundamenten in eine andere Dimension:  Das ganz neue „Nieuwe Nor“ ist so groß, dass auch Ruben das genaue Ausmaß nicht kennt: „…manchmal lande ich mit Besuchergruppen auch an Notausgängen, die mir noch unbekannt sind.“

Größe, hier insgesamt etwa 3000 Quadratmeter oder gar mehr, ist nicht alles, aber…: Das Nebengebäude vom alten „Nor“, in dem eine Kegelbahn und eine Disco („Kegelpalais“ und „Studio 54“) untergebracht waren, wurde komplett abgerissen. Die Stadt Heerlen als Eigentümer initiierte mit „IBA Parkstad“ ab 2016 die neue Konzeption. Beginnend mit einer Bedarfsanalyse, die nicht nur Heerlen, sondern die gesamte „Parkstad“ (mit rund 250.000 Einwohnern) betraf. Es ging also um eine gemeinschaftliche, regionale  Maßnahme, die abseits lokaler Befindlichkeiten allen zugute kommen sollte. Im Ergebnis wurde festgestellt: Es gibt ein hohes Interesse von „Pop-Liebhabern“ in der Region. Die möglichen Raumkapazitäten gestalteten sich bis dato so: 100 Personen (in kleinen Cafes und Kneipen), 200 Personen (im „Oefenbunker“/Probebunker), 350 Personen (im kleinen Saal des „Nieuwe Nor“), 1500 Personen (im Parkstad Limbourg Theater). Was fehlte, war also ein Raum, der etwa 600 bis 700 Besuchern Platz bieten sollte – für Heerlen und für die gesamte Region. Es folgte die positive Entscheidung des Stadtrates. IBA Parkstad übernahm die Projektleitung – mit einer Investitionssumme von rund 6 Mio. Euro. Baubeginn war Anfang 2020.

Jetzt wandelt man über Stahltreppen, diverse Lifts, Publikumsbalkone und Technikräume durch die ultra-moderne Welt einer Kulturstätte, die bis zur letzten Steckdose beeindruckend und perfekt geplant wurde. Urteil: 12 Points. Der Hauptraum, in dem an der Bar-Seite ein schwarz-goldenes Logo dezent signalisiert, dass eine limburgische Brauerei Sponsor ist, fast rund 700 Besucher. Zugabe: Architektonisch, technisch und praktisch betrachtet – erreicht der Hauptsaal das Optimum, gerade auch atmosphärisch. Die Räume daneben und darüber könnten auch Lounges in einem neuen Museum oder in einem Top-Hotel einer Metropole sein. Wir sind in Heerlen – mit 86.858 Einwohnern.

Schönheit ist nicht alles, aber…: „Mit dem neuen Saal können wir jetzt alle Spielräume und möglichen Band- wie Konzertoptionen perfekt abdecken. Der alte Saal bleibt bestehen, mit der großen Bühne können wir nun noch ganz andere Namen und bekanntere Acts präsentieren. In Bezug auf jede Art von Veranstaltung verfügen wir nun über den jeweils passenden Raum. Reicht dies nicht, nutzen wir als Alternative auch das `Parkstad Limburg Theaters`“, beschreibt Ruben die Variations-möglichkeiten.

Und ergänzt dazu: „Es ist Wunsch der Politik, dass wir mehr Kultur, Musik und Entertainment ins Herzen der Innenstadt bringen. Dazu nutzen wir die Räume, die dazu prädestiniert sind, also auch das Theater. Zu diesem Konzept gehört auch etwa das ´Glaspalais Schunck´ in der Nähe. Es wird eine Art Musik-Boulevard in der Innenstadt…“ Im Schunck-Gebäude, in das auch eine Musikschule integriert ist, findet gerade eine „Keith Haring“-Ausstellung statt, über der Haupteinkaufsstraße nebenan werben zurzeit überall Banner für „Heerlen als Kunststadt“.

Den Poptempel dazu gibt es schon mal. Fast in der gesamten Corona-Zeit war das „Nor“ geschlossen. Auch etwa das Konzert von Peter Murphy, Sänger der britischen New-Wave-Kultband „Bauhaus“, musste leider abgesagt werden. Entsprechend konnte man sich auf den Umbau konzentrieren. Nach der Eröffnung am 29. April, bei der auch der „Pop-Preis Limburg“ vergeben wurde, fanden bereits einige Veranstaltungen, Konzerte und Partys statt. U.a. auch mit „H-Town“, eine Party des jungen Modedesigners Naud Verboeket (aus Landgraaf), der unter seinem Pseudonym „TEARS“ mittlerweile national und international als hipper Ausstatter von HipHop-Stars bekannt ist. Naud hat zudem auch die neuen Shirts der „Nor“-Crew entworfen.

„Nach den Sommerpause planen wir mindestens 15 Events im Monat“, freut sich Ruben auf das stark erweiterte Programm. Am 28. August landen im „Nor“ z.B. die kanadische Formation „Front Line Assembly“, die seit Mitte der 80-er Jahre für ihren Mix aus EBM, Post-Industrial und Electronica international bekannt ist, sowie die „Stahlsinfoniker“ aus dem Pott, die legendären „Die Krupps“, die man durchaus zur Spitzengruppe deutschen Avantgarde-Bands zählen kann – etwa neben „Kraftwerk“, „Can“ und den „Einstürzenden Neubauten“. Das Konzert findet in Zusammenarbeit mit dem Heerlener „Cultura Nova“-Festival statt.

Kooperation wird in der limburgischen Pop-Kultur-Landschaft anscheinend sowieso groß geschrieben. Momentan rauscht „Zuiderstorm Limburg“, eine Festival-Tour für regionale Nachwuchsbands, quer durch alle Pop-Podien. Das kommende „Nor“-Programm bietet u.a.: die psychedelischen Rock-Klassiker „Gong“ (GB), aber auch „ABBA Rocks“, „Voodoo“ (Afrobeats, Dancehall), „Michelle David & The True Notes“ (Soul), die Coverband „Infloyd“, „Smoove & Terrel“, „Gare du Nord“, „Fischer-Z“ und Ellen Folley sowie diverse Party-Formate.

„Zurzeit suchen wir vor allem auch neue Mitarbeitende“, betont Ruben, der in Tilburg Kommunikation mit dem Schwerpunkt Entertainment/Kreativwirtschaft studiert hat. Vor seinem „Nor“-Job war er für den Maastrichter Elektro-Club „Complex“ tätig, der direkt am Maasufer im Stadtteil „Wyck“ liegt und mittlerweile das Mekka für elektronische Musik in der Euregio ist. Hier geben sich die internationalen Top-DJs der Szene die Klinke und die Pultregler in die Hand. Zuletzt u.a. die deutschen Spitzenkräfte Monika Kruse und Sven Väth. Ruben betreibt zudem auch noch das Portal „Raisinggrounds“, das regionale MusikerInnen, Bands und KünstlerInnen kompakt fördert. Etwa in den Bereichen Booking, Merchandising, Vertrieb, Studioaufnahmen und Kommunikation.

Für das „Nor“ und die Pop-Kultur in Limburg ist vor allem auch von Vorteil, dass man enge Kontakte zu „Mojo Concerts“ pflegt. Die Konzertagentur, 1968 gegründet und vor allem als Veranstalter des „North Sea Jazz Festivals“ in Den Haag bekannt geworden, ist einer der zentralen Booking-Agenturen der Niederlande. „Mojo“ (mit Hauptsitz in Delft) ist seit 2020 auch Besitzer und Ausrichter des „Pink Pop“-Festivals. Die erste Adresse für Top-Stars organsiert jährlich über 150 Konzerte und Festivals (u.a. „Lowland Paradise“, „Down the rabbit hole“, „We are electric und „Wod Hah!“). Zur überregionalen Vernetzung des „Nor“ gehört auch die Amsterdamer Agentur „Friendly Fire“.

Das „Nor“ ist nicht nur ein Faktor der Nachwuchsförderung, des Kultur“konsums“ und der Stadt-, Region- sowie Wirtschaftsentwicklung, sondern auch selbst ein nicht unwesentlicher Arbeitgeber: Die „Nor“-Kerncrew besteht aus 15 festen Mitarbeitenden. Dazu kommen noch etwa 100 weitere Kräfte für die Bereiche Gastro, Technik usw.. „So ganz genau weiß ich das auch nicht. Es sind viele…und es werden wohl noch mehr werden. Auch in Bezug auf Praktika und Volunteer-Programme sind wir sehr gefragt“, sagt Ruben abschließend.

von Martin Heinen

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